Ich kenne keine Kunst, die einen solchen Raum öffnet wie Jochens Skulpturen

Einführung von Ralf Bertscheit zu der Ausstellung
Jochen Warth
in der Evangelischen Akademie, Bad Boll, 2007


Wir wissen so viel.
Wir wissen alles.
Unsere ganze Umwelt ist erforscht, Geheimnisse gibt es keine mehr, nichts trägt mehr den Mantel des Unwissens, alles steht uns klar und einsichtig und erklärbar vor Augen – schön.

Auch haben wir genügend Instrumentarien, um uns selbst uns selbst zu erklären: Psychologie, Anatomie, Biologie, Neurologie, Genetik, Soziologie, … Wie wir uns verhalten, weshalb wir uns so verhalten wie wir uns verhalten, weshalb andere sich so verhalten wie wir uns verhalten wenn wir uns wie sie verhalten … bis hinein in die entfernteste Großmüttergeneration, bis in das Zucken unseres kleinsten Muskels, bis in die Mutation des 237sten Gens in der 3.Reihe von links, bis in das Fehlfeuern eines Neurons in der Großhirnrinde ist alles untersucht, ist alles erklärt, wissen wir Bescheid über unsere Antriebe, unsere Motivationen, die Formen unseres Verhaltens, die darauf folgenden Wirkungen, die zugrundeliegenden Wahrnehmungen, die neuronalen und intramuskulären Wege … – so haben wir es gerne – wir wissen alles, und wir wissen auch was wir nicht wissen, und auch das enträtseln wir in Kürze, das Unwissen hat keine Überlebenschance, das Unwissen ist eine bedrohte Spezies – so haben wir es gerne – so hätten wir es gerne – denn : historisch gesehen gibt es da ein Problem, wie an einem kleinen Beispiel deutlich wird : 1874 riet ein Professor Jolly dem angehenden Studenten Max Planck von einem Studium der Physik ab, da in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht sei. Max Planck ignorierte den Rat und entwickelte wenige Jahre später die Quantenmechanik, deren wissenschaftliche Folgen die Menschheit heute vor größere und ungeklärtere Fragen als jemals zuvor stellt – ja den Menschen selbst sogar als materielle Erscheinung in Frage stellt.

Ich will dies als Bild schildern:
Stellt man sich den Erkenntnisstand des Menschen als eine große Landkarte vor, so bildet das gesammelte Wissen der Menschheit die Landmassen dieser imaginären Welt. Das Unwissen verbirgt sich in den Meeren und Seen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die nassen Stellen auf der Landkarte zurückzudrängen. Das ist nicht einfach, manchmal tauchen an Stellen, die man schon lange trockengelegt glaubte, wieder neue Pfützen auf, die sich dann in Moore, Teiche, Seen und vielleicht sogar Meere verwandeln. Ein Beispiel ist die Frage, wann und durch wen Amerika besiedelt wurde : Sie galt mehr als ein halbes Jahrhundert als geklärt, ist seit einigen Jahren aber wegen neuer archäologischer Funde wieder vollkommen offen. Forscher vermehren durch ihre Arbeit eben nicht nur das Wissen der Menschheit, sondern auch das Unwissen. Wie oben beschrieben waren Ende des 19. Jahrhunderts viele Physiker davon überzeugt, die Welt vollständig erforscht zu haben und nur noch Detailfragen klären zu müssen. Bis sich durch Quantenmechanik und Relativitätstheorie herausstellte, dass sie einfach in vielerlei Hinsicht zu kurz gedacht hatten – ein riesiges Meer aus Unwissen rollte wie ein Tsunami über die sich so wohlig im eigenen Erkenntnisstand suhlende Menschheit hinweg.

Und Sie glauben nicht, wofür man heute alles noch keine Erklärung gefunden hat: Wie ein Tropfen entsteht. Weshalb Menschen und Tiere gähnen, ja, weshalb sie überhaupt schlafen. Weshalb eine Erkältung entsteht. Welche unterirdische Kraft die Plattentektonik antreibt. Wie das Leben entstanden ist. Wie das Riechen funktioniert. Weshalb durch Aspirin Kopfschmerzen verschwinden. Welchen Sinn das Leben hat. Um nur einige der unwichtigeren Unwissensgebiete zu nennen.

Und was hat das alles mit Jochen Warths Kunst zu tun, wegen der Sie hierher gekommen sind? Warten sie kurz: Neben all den erwähnten Bereichen der menschlichen Erkenntnis, kurz Wissenschaften genannt, gibt es einen weiteren Bereich, der zwar auch ständig von allen Seiten mit den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Instrumenten bearbeitet wird, der aber gerade dadurch glänzt und strahlt, dass er stolz das Unwissen, das Ahnen, das Vermuten, das Staunen in seiner Mitte trägt und dieses fest und selbstbewusst gegen alle Herangehensversuche von außen verteidigt: die Kunst.

Ein in Öl gemaltes kleines Portrait von Jan van Eyck aus dem frühen 15.Jahrhundert kann man kunstwissenschaftlich ikonografisch, ikonologisch und hermeneutisch untersuchen, kann die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, die Stellung des Künstlers, des Dargestellten und des Auftraggebers festmachen, kann dendrochronologisch und spektralanalytisch die Entstehungszeit vor 500 Jahren auf die Woche genau datieren, kann aufgrund der Formalanalyse Darstellung, Ausschnitt, Malweise usw. untersuchen und sowohl im Werkzusammenhang als auch in der psychologischen Wirkung interpretieren … aber all das und noch viel mehr erklärt mir nicht, warum ich das Bild in einem Museum sehe, still, klein und bescheiden an der Wand hängend, … und mir kommen die Tränen. Ich weiß trotz aller Erkenntnisfähigkeit nicht, warum dieses Bild diese Wirkung haben kann, warum mir die Tränen angesichts dieses Bildes kommen.
Ich weiß es nicht !
Diese Aussage sollte eine Reputation erfahren in einer Welt, die gerne vorgibt alles zu wissen, alles zu kontrollieren, alles zu durchschauen. Ich weiß es nicht ! – heißt, ich habe trotz aller redlichen Mühe, die ich mir mit dem Versuch zu verstehen gegeben habe, erkannt, dass es Grenzen meines Wissens gibt, dass ich diese Grenzen respektiere und das Dahinter als Staunen, als Berührtsein, als Wunder wahrnehme.

Spielen wir dieses Spiel, diese wertvolle Erfahrung der Unwissenheit, anhand von Jochens Kunst durch. Ich versuche im folgenden Jochens Skulpturen aus fünf unterschiedlichen Blickwinkeln zu beschreiben. Die Fragen, die diesen Blickwinkeln zugrunde liegen, lauten:

  • Jochens Einordnung in künstlerische Richtungen
  • Material + Entstehung
  • Raum, Bewegung + Geste
  • Herkunft der Form
  • Fragment

Am Ende schließt sich dann ein sechstes Kapitel an, das nach dem vorherigen Versuch der genauen Beobachtung wieder ziemlich spekulativ wird. Ich nenne es in Anlehnung an das bisher Gesagte :

  • Unwissen

Jochens Einordnung in künstlerische Richtungen

Jochen Warth wurde 1952 geboren. Zu der Zeit, als er anfing sich für Kunst zu interessieren und selbst Kunst zu machen, in den 60er Jahren, begann eine bis dahin nicht bekannte Vielfalt der Kunstformen nebeneinander zu existieren. Jochen hat Ansätze aus diesen verschiedensten Möglichkeiten, Kunst zu machen, übernommen:

  • Von der informellen Malerei das Gestische, die Bewegung, die Dynamik, aber auch das Interesse an der Wirkung des Materials.
  • Vom Minimalismus die Strenge, die abgeschlossen hermetische Wirkung seiner Skulpturen als auch der Gebrauch von industriell vorgefertigten Materialien.
  • Von der Konzeptkunst das Serielle, das sowohl darin sichtbar ist, dass er Gruppen von identischen Einzelstücken zusammen ausstellt als auch darin, dass seine Skulptur – Erfindungen sich in ihrem Material als auch ihrer Formensprache meist auseinander entwickeln. Große Brüche und Sprünge sind in seinen Arbeiten kaum zu finden, er entwickelt seit Jahren konsequent einen bildhauerischen Leitgedanken weiter. Er erinnert mich damit an den Musiker und Sänger Neil Young. Ihm wurde bei einem seiner Konzerte, als er ein neues Lied anstimmte, zugerufen : „They all sound the same !“ (Die klingen alle gleich !) Er antwortete : „It´s all the same song !” (Sie sind alle dasselbe Lied !)

Material + Entstehung

Wie eben gesagt, Jochen verwendet, neben Holz und Beton, meist das industriell gefertigte Material Stahlblech. Er schneidet, flext und sägt einzelne Formen aus den Blechplatten aus und setzt diese dann zusammen, fixiert sie zuerst mit Schweißpunkten aneinander und schweißt dann die aneinander stoßenden Kanten mit einer durchgehenden Schweißnaht zusammen. Dabei hat er inzwischen eine so große handwerkliche Perfektion erreicht, dass man meistens die Schweißnaht gar nicht mehr sieht und die Plastiken wie massive Vollplastiken wirken.
In anderen Fällen sind die Schweißpunkte und die Bleche bewusst so stehen gelassen worden als eben Schweißpunkte und Bleche. Die Oberflächen der Plastiken werden dann einmal dem Regen ausgesetzt, um zu rosten, ein anderes Mal werden sie geschliffen und poliert, damit sie silbern glänzen wie wertvolle Edelmetalle.

Exemplarisch herausgreifen als Beispiel einer souveränen, sich ihrer Wirkung sehr bewussten Arbeitsweise möchte ich die kleinen Häuser, die sich …. befinden.
Aus Blechen zusammengesetzt, wirken sie doch wie massive Körper, beinahe wie in einer Form gegossen. Beachten Sie an ihnen einmal genau die Kanten, an denen die Bleche zusammengeschweißt wurden. Neben den glatt polierten, silbern glänzenden Oberflächen sind hier kleine Brüche im Material zu erkennen, die den so selbstbewusst massiven Häusern eine winzige Nuance, einen Hauch von Alterung, von Brüchigkeit oder auch von aus dem Inneren der Materie herausdrängender Kraft geben.
Erreicht hat Jochen dies durch das ganz bewusst auf diese Wirkung zielende unsaubere, nicht durchgängige Ziehen der Schweißnaht und das anschließende Polieren. Jochen geht mit dem Schweißgerät und den Schweißnähten so um wie ein souveräner Zeichner mit dem Stift und dem Strich, mit den Oberflächen seiner Plastiken so wie ein Maler mit den Farben und Texturen seiner Bilder.

Raum, Bewegung + Geste

Skulpturen sind per Definition räumliche Gebilde, deshalb ist es müßig zu sagen, Jochen thematisiere mit seinen Skulpturen den Raum. Die Frage muss vielmehr lauten, wie er den Raum thematisiert. Und damit komme ich zu den Unterpunkten des Kapitels Raum, die für mich Bewegung, Geste, Distanz und Durchdringung heißen müssen.

Auf den ersten Blick fallen an Jochens Skulpturen die vielen Schwünge, Rundungen, Biegungen, Kreisfragmente auf. Gerade Linien tauchen zwar auch auf, haben aber eine eher untergeordnete, dienende, stützende Funktion.

An dieser Stelle möchte ich mit Ihnen einen kleinen Selbsterfahrungskurs machen, der Ihnen vielleicht hilft, sich in die Skulpturen besser hineinzudenken. Sie brauchen nichts weiter als Ihre zwei Arme. Lassen Sie uns ein paar der Gesten von Jochens Skulpturen nachbilden : (Ich brauche jetzt einen Freiwilligen !)

Strecken Sie einfach Ihre Arme gerade ausgestreckt waagrecht vor den Körper und führen Sie Ihre Hände an den Fingerspitzen zusammen. Es entsteht ein Innenraum zwischen Ihren Armen in Form eines langgestreckten Dreiecks. … Ein Innenraum zu bilden bedeutet, dass man auch gleichzeitig einen Außenraum und eine Trennungslinie zwischen beiden Räumen gebildet hat. Beachten Sie bitte im folgenden das Verhältnis zwischen diesen verschiedenen Räumen und die Spannung der Linien, in diesem Fall Ihrer Arme. Konzentrieren Sie sich ein paar Sekunden auf diese soeben gebildete Figur. …
Dann winkeln Sie langsam Ihre Arme in Ellenbogen an und ziehen Ihre Hände ca. 10 cm zu sich heran. … Es entsteht sofort ein anderer Innenraum mit einem anderen Verhältnis zum Außenraum. Während zuvor ein spitzer Keil in den Außenraum ragte und aggressiv an der Spitze, an Ihren Händen in ihn eindrang, ist diese einschneidende Bewegung in den Außenraum jetzt zurückgenommen und spürbar die Spannung aus den Linien, Ihren Armen gewichen. Die Spitze der Figur, Ihre Hände, ragen immer noch in den Außenraum, die einschneidende Geste ist aber nun zurückgenommen zugunsten einer sanften Ausbeulung der Linien, der Ellenbogen in den Raum. Die Figur dehnt sich im Inneren aus und scheint jetzt symmetrisch zu werden. Während Ihre Hände weiterhin die eine Spitze bilden, kann man sich eine gegenüberliegende zweite Spitze in Fortsetzung der Arme nach hinten, an Ihrer Wirbelsäule denken. Richtungsdominanz und Charakter der Figur haben sich schlagartig durch eine winzige Geste verändert. Führen wir das noch weiter.
Ziehen sie jetzt die Hände langsam noch weiter zu Ihrem Körper, so dass sich zuerst ein Kreis, dann bei weiterem Ziehen ein querliegendes Oval vor Ihre Körper bildet. Die Hände berühren sich weiterhin nur an den Fingerspitzen …
Beachten Sie, wie die Figur zunächst die Richtung verliert und dann eine neue, viel sanfter definierte Richtung als ganz zu Beginn der Übung beim Dreieck neu gewinnt. Testen Sie diesen Ablauf nun noch einmal und achten Sie auf Ihre Wahrnehmung der verschiedenen entstehenden Räume. …

Nun öffnen Sie bitte langsam, ganz langsam Ihre Arme. Fühlen Sie, wie der äußere Raum in den inneren hineinfließt ? … Nun entstehen nicht mehr zwei streng voneinander getrennte Räume wie zuvor, sondern der Außenraum fließt in einen von Ihnen freigegebenen Binnenraum. Sie können natürlich auch andere Gegenstände, z.B. Menschen in diesen Binnenraum einschließen, das nennt man gemeinhin Umarmung. Und damit sehen Sie schon, dass diese Raumbeschreibung etwas Gestisches und darüber hinaus auch Bedeutung bekommen hat. Das ist jetzt aber etwas verfrüht, deshalb schnell zurück zum Raum.

Sie können nun zusätzlich zu den Linien, die Ihre Armen bilden, Ihren Körper als Linie definieren. Und nun wird das Ganze schnell äußerst komplex. Denn : Stehen Sie aufrecht oder gebeugt ? …
Beugen kann man sich nach vorne und nach hinten. …
Versuchen Sie einmal den Körper zur Seite zu biegen. …
Spannung und Raumdefinition, Charakter und Deutung der Figuren verändern sich quasi mit jeder kleinen Veränderung dieses Liniengefüges. …
Und noch komplexer wird die ganze Angelegenheit, wenn zwei solcher Gebilde miteinander in Beziehung treten. Sie brauchen nun einen Partner, nehmen Sie einfach die neben Ihnen stehende Person. …

Erste Doppelfigur : Die offenen Arme zweier gegenüberstehender Personen bilden ineinandergeschobene und miteinander verschachtelte Räume. …

Zweite Doppelfigur : Die geschlossen ineinander verketteten Arme bilden etwas eigentlich unmögliches ab, die Verschachtelung und Interaktion zweier voneinander abgeschlossener Räume. …

Dritte Doppelfigur : Die versetzte Berührung an den Händen bei offenen Armen lässt den Außenraum der einen Person in den Innenraum der
anderen Person fließen.

Brechen wir diese Übungen hier ab. Ich hoffe, Sie haben gesehen und erfahren, wie Bewegung und Geste, Distanz und Durchdringung in Jochens Skulpturen den Raum bilden.

Und das ist kein abstrakter, lebloser, kalt intellektueller Raum. Es ist ein Raum, der in seinen vielfältigen Beziehungsangaben und wegen seiner Herkunft aus der Geste und der Bewegung menschliche Züge trägt, der körperlich nachvollziehbar, nacherlebbar ist. Ein warmer Raum. Skulpturen, die warme, nachvollziehbare, von unserer Körperlichkeit abgeleitete Räume bilden. Stählerne Skulpturen. Warme stählerne Skulpturen – mit körperlichen Gesten, aus stahlharten Körpern mit haptisch spannenden Oberflächen. Zur Interpretation, die jetzt ansetzen könnte, lade ich Sie gerne ein, sage aber selber nichts mehr dazu.

Herkunft der Form

Die eben demonstrierte gestische und körperliche Raumerfahrung ist der eine Bezugspunkt, auf den Jochens Formerfindung basiert. Ich glaube auch noch einen zweiten gefunden zu haben.

Jochen ist ein „Handmensch“, er erforscht, arbeitet, schafft, begreift mit den Händen. Ich stelle mir vor – und so kenne ich ihn : Er hält ein Ei in seinen Händen, ein großes Brotmesser mitsamt dem Laib Brot, er streicht über die Armatur meines Motorrollers, fährt der Form einer Sense nach, befühlt die Oberfläche eines Steins oder des Holzes, das er in seinem Haus verbaut hat, begeistert sich auf dem Schrottplatz für Fundstücke wie einem Kesselfragment einer alten Lokomotive. Seine Hände sind Sensoren für Formen und Materialien, die in seiner Erinnerung gespeichert werden.
Beim Arbeiten werden diese Erinnerungen dann aktiviert, schlagen sich nieder. Jochen plant und konstruiert seine Skulpturen nicht auf Papier,
nicht in Zeichnungen mit Millimeterangaben, Schnittstellen und Materialstärken. Sie entstehen im Kopf, er zeichnet sie im Kopf. Dadurch sind sie von Anfang an emotionale Gebilde, so streng konstruiert sie auch wirken. Inspiriert von den beschriebenen Erinnerungen, konstruiert als emotionale Bilder von Skulpturen.

Man ahnt, woher diese Formen stammen, weil sie uns an Dinge aus der Welt da draußen erinnern. Ich gebe nur ein paar Hinweise :

Landwirtschaftliche Geräte, Rechen, Harken, Sensen
Motorblöcke, Maschinenteile, Schiffsrümpfe
Samenkapseln, Fischgräten, Flügel, Klauen

Und gepaart mit den oben beschriebenen gestisch – körperlichen Erfahrungen hat Jochen einen reichen Formenschatz, aus dem er schöpft, wenn er seine Skulpturen konstruiert.

Fragment

Eine Beobachtung glaube ich Ihnen nicht vorenthalten zu dürfen.
Jochens Skulpturen erscheinen fast durchgehend wie Fragmente.
Sie könnten jeweils Teile eines größeren Ganzen sein, wie aus einer Maschine herausgefallene Teile, wie auf der Straße liegende, irgendwo abgebrochene Fundstücke. Der Blick in seine Werkstatt ist wie der Blick in ein Ersatzteillager einer phantastischen Maschinerie.

Bewegung, die fragmentarisch dargestellt wird – wir kennen das aus Comics, wenn hinter dem rennenden Donald Duck oder dem zuschlagenden Asterix drei Striche mit einem „Swoooosch“ oder einem „Wroooom“ darüber dargestellt sind. Nur ein äußerst kurzer Moment kann zeichnerisch eingefroren werden, den Rest der Bewegung müssen wir uns denken, und das fällt uns nicht schwer – weder bei den Comics noch bei Jochens Skulpturen.

Sie halten nach dem Auseinanderbau und anschließendem Wieder – Zusammenbau des Getriebes Ihres Autos ein wohlgeformtes Stück Metall in Händen und wissen, das gehört da eigentlich rein. Ihr alter Tick – Tack – Wecker fällt auf den Boden, sie pfriemeln die in alle Richtungen weggespritzten Zahnräder, Federn, Pleuel, Achsen zusammen und sind schwer am Rätseln : wie steht welches Teil in Beziehung zu den anderen und wo gehört es hin ?

Fragmente regen uns zum Weiterdenken an, Fragmente sind Teile einer Geschichte, deren Davor und Dahinter, deren Anknüpfungspunkte wir selbst finden müssen.
Uns als Betrachter fällt damit die komplexe Aufgabe zu, die Deutung, die Geschichte, das Eindenken und Einfühlen in diese Kunstwerke mit allen uns zugänglichen, oben angedeuteten Beziehungen der Bewegung und Geste und der assoziativen Herkunft der Formen zu entwickeln, weiterzuspinnen, selbst zu denken und zu fühlen.

Unwissen

Es gibt diesen berühmten Satz : Die Summe der Einzelteile ist nicht das Ganze. Auf unseren Fall angewendet kann man sagen : Die Summe der Beschreibungen führt noch lange nicht zum Wesen der Skulpturen.
Und, einen Bogen zurück zum Anfang geschlagen :
Ich habe mir Mühe geben, Jochens Skulpturen, ihre Herkunft, Entstehung und Wirkung so genau wie möglich zu beschreiben, es bleibt mir aber immer noch Unbekanntes, Rätselhaftes, es bleibt mir Unwissen.

Ich kenne keine Kunst, die einen solchen Raum öffnet wie Jochens Skulpturen : einen Raum, der beschrieben sein kann zwischen kristallklarer scharfer Reinheit der Konstruktion – und menschlicher, körperlicher, warmer Assoziation der Formen, der Bewegung und der Geste.
Das ist das, was ich zu beschreiben versuchte – quasi das Skelett der Skulpturen. Aber diesen Wesen, die diese Skulpturen für mich sind, kann ich mich so nur annähern. Das Fleisch, das Leben zwischen den Knochen des Skeletts bekomme ich so nicht zu fassen.
Jochens Skulpturen beschreiben immer einen eigenartigen, ganz eigenen Raum – einen Jochen – Raum, mit einer ebensolchen eigenartigen Stimmung. Und den weiß ich nicht zu beschreiben, den fühle ich, den kenne ich seit mehr als 20 Jahren, aber in Worte fassen kann ich ihn nicht.
Da bleibt Fühlen, Ahnen, da bleibt ein unzugänglicher Raum, da bleibt Unwissen.
Spannendes, lustvolles, neugieriges Unwissen – mit dem ich Sie hoffentlich anstecken konnte.