Er arbeitet gegen den Strom, anachronistisch. Reduktion, Konzentration, Präzision

Rede von C.H.C. Geiselhardt zur Eröffnung der Austellung
Skulpturen und Wandzeichen
in der Galerie im Griesbad, Ulm, Oktober 1999


Meine Damen und Herren,

Skulpturen und Wandzeichen von Jochen Warth in der Galerie im Griesbad in Ulm. Dreidimensionale, plastische Objekte hier in diesen Räumen. Plastiken und Objekte im Raum. Körper im Raum. Raumkörper. Raum. Versuchen wir unsere Vorstellungen des elementaren Begriffs Raum genauer zu erfassen, stoßen wir in den Wurzeln immer wieder auf die Tätigkeit des Bauens. In der langen Tradition des architektonischen Bauens finden sich, dabei immer die physikalischen Grenzen des Handwerks auslotend, die sich stetig weiterentwickelnden Erfahrungen unserer Raumvorstellungen. In anschaulichster Weise ist dieser Prozess hier in Ulm unmittelbar sichtbar vor unseren Augen:

Ich spreche vom Münsterplatz, auf dem sich unübersehbar und in gewaltiger Dimension zwei verschiedene Raum-Konzepte kontrastieren: Auf der einen Seite haben wir das 1377 neugegründete, atemberaubend-visionäre, hochgotische Münster, begonnen von Baumeistern der Parlerfamilie, die offensichtlich ein enormes Zutrauen in die Zukunft der Menschen allgemein – und der Ulmer Bürgerinnen und Bürger im Speziellen – gehabt haben mussten. Und als Antwort darauf, das moderne Gegenüber, das Stadthaus von Richard Meier, realisiert in den frühen 90iger Jahren, nach langem und erbittert ausgetragenem Diskurs dafür oder dagegen. In dieser ungewöhnlich gelungen-pointierten Kontrastierung entwickelt der Ulmer Münsterplatz wunderbare Einblicke und macht in anschaulichster Weise Erfahrungen im Raum und mit Raum möglich: Jeder kann den Spiel-Raum zwischen Raum-Geben und Raum-Nehmen, zwischen dem offenen und dem geschlossenen Raum, dem Ent-faltungs- und dem Bewegungs-Raum, dem Innen-und Außen-Raum selbst erfahren und überprüfen… Lassen wir diese Worte ein wenig nachklingen, erkennen wir Raum als ein uns wesenhaft verbundenes Phänomen, es wird deutlich, wie eng und unmittelbar erlebter Raum mit der eigenen, körperhaften Raumgebundenheit verknüpft ist.

Unsere Raumerfahrungen sind komplexer und in der Regel intuitiver Natur: Als kleine Vertikale auf der scheinbar endlosen Horizontalen der Erdoberfläche bewegen wir uns im Raum und – Albert Einstein lässt grüßen – in Raum und Zeit, und tragen in uns immerzu den “Mittelpunkt der Welt“. Dieses Raumbewusstsein selbst ist keine statische Größe: Von der Entdeckung der Erde als Kugel, der helozentrischen Ordnung durch Kopernikus bis zur Weltraumfahrt unserer Tage, – das Raumbewusstsein des Menschen hat sich immer wieder entscheidend verändert und erweitert. Das vertraute Bild des blauen Planeten vor der nachtschwarzen Folie des Weltalls, mit dem unsere Kinder heute ganz selbstverständlich aufwachsen, ist gerade 30 Jahre alt: Wir blicken aus dem Kosmos auf uns selbst! Bezogen auf die künstlerische Praxis aber bedeutet raumplastisches, bildhauerisches Denken und Arbeiten die Spiegelung von Raumbewusstsein. Die Skulptur, das plastische Objekt, wird zum Gegenüber, darf letztlich als Reflektion unserer eigenen, körperlichen Existenz verstanden werden. Damit zurück zu den Skulpturen und Wandzeichen von Jochen Warth in der Galerie im Grießbad in Ulm und zur Person des Künstlers selbst.

Jochen Warth, Jahrgang 52, geboren in Öhringen und aufgewachsen in Ulm, lebt heute in Nehren zwischen Reutlingen und Tübingen am Fuße der Schwäbischen Alb. Warth liebt das Eisen und das Eisen ist für ihn eine Herausforderung. Ein Material, das beherrscht werden will. Nur so können derartige Objekte entstehen, wie wir sie hier sehen. Die Selbstverständlichkeit ihrer Erscheinung, ihre scheinbar mühelose Prägnanz, zeugen von Warths Meisterschaft auf dem Gebiet der handwerklichen Verarbeitung. Kunst als Prozess kennt Anfang und Ende. Warth konstruiert im Kopf. Ausschließlich und umfassend. Seine Objekte sind Kopfgeburten. Die Idee wird Form und Form wird Inhalt. Eine Vorzeichnung wird man vergebens suchen. Ist das innere Bild klar, die Vision manifest, geht er ins Material. Als einzige Vorstufe werden Schablonen und Modelle aus festem Karton geduldet. Die Realisierung führt von der Fläche zum Körper, zum Raum. Ausgangspunkt ist eine gewöhnliche Stahlplatte, 2-3mm stark. Schneiden und biegen, schmieden und schweißen, sägen und bohren, körperliche Kraft, äußerste Anstrengung, absolute Konzentration, angespannte Stille und schmerzhaft-laute Geräusche. Die alles gehört zu einem Arbeitsprozess, der sich über Wochen und Monate hinziehen kann.

Was für ein Material: Eisen. Wort und Stoff haben einen besonderen Klang: eisen bringet man aus der erden und aus den steinen schmelzt man erz. Eisen ist ein mysthisches Material und seine Wertigkeit ist ambivalent besetzt. Der mann ist von eisen zeugt von Anerkennung, sein herz war von eisen fasst uns fröstelnd an. Gar manches Eisen hinterlässt dauerhafte Spuren. Eisenzeit und Eisenhans führen in lang zurückliegende Gedächtnisschichten. Rotglühend, geboren aus der Hitze, empfinden wir diese Materie nur wenig später, kalt wie Stahl. Das unspektakuläre Äußere trifft auf die unnachgiebige Härte. Schutzgebend und Wunden schlagend zugleich. Es ist ebenso das Material der zerstörerischen Schwerter und Kanonen wie der Eisen-Bahn, Symbol des Fortschritts und der technologischen Industrialisierung. Die innere Festigkeit des Eisens überwindet nahezu die Gesetze der Schwerkraft. Vor allem die jüngeren technischen Verfahren wie Walzen, Fräsen und vor allem das Schweißen machen die Eisenplastik zu einem originären Kind unseres Jahrhunderts. Keiner, der ihn kennt, wird ihn jemals wieder vergessen, den Geruch des Eisens, den schwarzen Zunder des heißgewalzten Blechs. Ein Material, das die Zeit offenbar stillstehen lässt, das Dauer verspricht. Und doch ist auch Leben in ihm. Wir kennen die blankgeschliffenen Flächen , auf denen sich das Licht sammelt ebenso wie erdige Röte des körnig-rauhen Rostüberzugs auf dem ungeschützten Metall.

Jochen Warth macht Boden- und Wandobjekte. Schon ein erster Rundgang durch die Galerie zeigt uns eine durchgehend einheitliche, prägnante Formensprache. Wir sehen eine kleine, aber charakteristische Auswahl seiner plastischen Arbeiten: Mehrteilige, rhythmisierende Gruppen, komplex im Raum drehende Einzelobjekte, Wandzeichen, und sogenannte Durchbrüche. Die Titel der Arbeiten geben sich sparsam und wiederholen in der Regel das eben Gesagte: 5-teilige/97 oder 11-teilige/97/98, Wandzeichen/98 oderDurchbruch 3/99, oder überhaupt, und dies darf durchaus programmatisch verstanden werden: Ohne Titel. Für den Betrachter gibt es keine Ablenkung vom Wesentlichen vor den Objekten. Was sieht er? Formen im Raum, ungegenständlich, geometrisch-abstrakt. Abstraktion, d.h. der Verzicht auf gegenständliche Assoziationen, ist eine der originären künstlerischen Sprachen des zuendegehenden 20. Jahrhunderts. Eine Frucht der frühen Jahre. Kubismus und Konstruktivismus waren die revolutionären Geburtshelfer. (Sie dürfen an dieser Stelle auch noch einmal an das Meier’sche Stadthaus denken).

Wo die traditionelle Skulptur von der Masse abtrug, wird hier in additiven Verfahren das Objekt zusammengesetzt. Vier Flächen bilden vier Kanten, deren Abstände oft parallel erscheinen, oft stark variieren und, erst bei genauerer Betrachtung erkennbar, auch auseinander driften. Mitbestimmt durch die Eigenschaft des Materials nur in einer Richtung biegsam zu sein. Schnittflächen gegen den Boden definieren die Stellung zum Raum. Bogenförmige Schwünge in parallelen Führungen prägen das plastische Repertoire, sei es als Teil großer Radien, sei es auf kurzer Strecke sich dynamisch krümmend. Wo ist der Ausgangspunkt, wo das imaginierte Ziel dieser Richtungsimpulse in den Raum. Wir sind aufgefordert, den sichtbaren um einen unsichtbaren Titel zu ergänzen. Immer wieder aber zieht sich das Objekt auf sich selbst zurück. Und so erwächst ein rhythmisches Pulsen im Raum. Dergleichen Spekulationen sind erlaubt, wenn nicht gar erwünscht, und wir benützen die Zeit des Nachdenkens zum Umkreisen der Objekte. Die Komplexität ihrer Ansichten erzwingt die Bewegung des Betrachters. Eine dynamische Allansicht offenbart sich. Die Mehrteiligkeit schafft komplexen Zwischenraum und Überschneidung. Besticht schon die Präzision der Einzelform, so ist die vielfache Wiederholung derselben ein fleisch-gewordener Anachronismus im Zeitalter der industriellen Massenfertigung. Teilweise ragen die Formen unverschlossen in den Raum, dunkle Öffnungen klaffen auf, lassen die Objekte zu Hüllen werden, verweisen auf das innere Volumen.

Körper im Licht werfen Schatten, Schlagschatten, Körperschatten. Das Licht, seine Qualität und Ausrichtung, modellieren die Objekte jeweils neu. Die Oberflächen des Metalls lieben das Licht, vor allem auch das veränderliche Licht, das ihnen Leben gibt. Tageslicht ist gutes Licht: Morgennebel, Sommertag und Winternacht. Durchnässt vom Landregen blitzt es in den Stahlen der untergehenden Sonne. Blank poliert und geschützt sammeln die Kanten das Licht, geben die regelmäßig gesetzten Schweißpunkte den Takt an, saugen die trocken-porösen Rostflächen jegliche kleinste Reflexionspunkte weg. Schwärzlich bis bleigrau schimmert das geschützte Eisen. Erdfarben dunkel bis flammendrot variiert das korodierte Oxid. Im Erröten des Eisens errötet die Natur, sagt die Dichterin. Die rostrote Farbe erzählt auch ein Stück vom Tod. Unsere vorsichtig tastende Hand erfährt diese Unterscheidung ebenfalls, wenn auch anderst. Weiche Rundungen unerbittlich präzisen Kantbrüchen. Fließend glatte Ebenen neben schmerzhaft-sperrigen Rost-Häutungen. Eisen sehen, fühlen, riechen. Und eigentlich auch hören. Dies allerdings ist hier nur in der Vorstellung erlebbar, da Klangproben nicht vorgesehen sind. Aber im Grunde gilt: Alle diese Objekte besitzen auch ihren ganz spezifischen, unverwechselbaren Ton. Er erklingt allein in unserer persönlichen Resonanzfähigkeit. Ein letzter Hinweis: Jochen Warth ist unser Zeitgenosse. Mitten unter uns erlebt er diese Erscheinung der Welt wie wir. Diese ungeheuer widerspruchsvolle, dabei kaum noch überschaubare, unersättliche, menschen-,und inhalte- und bilderverbrauchende Zeit. Die audio-visuelle Informationsflut ist allgegenwärtig: Der Mensch sieht sich zum Imput-Output-Modell degradiert, seine Aufnahme-und Verarbeitungsfähigkeiten sind längst im roten Bereich angelangt. Die Krise der Wahrnehmung ist offenbar. Die unmittelbare, sinnliche Wahrnehmung wird zunehmend ersetzt durch die virtuellen Welten, wie sie in digitalisiert-angeglichener Fülle und rasender Geschwindigkeit auf dem Monitor konkurrieren: Bild, Ton und Text in der Endlosschleife. Maßlosigkeit und Anspruchslosigkeit gehen Hand in Hand. Die Quantität spielt eine immer größere Rolle, die Qualität stellt offensichtlich eine immer mehr vernachlässigbare Größe dar.

Warths künstlerische Arbeit, seine plastischen Objekte, widersetzen sich diesen und anderen Zeiterscheinungen. Er arbeitet gegen den Strom, anachronistisch. Reduktion, Konzentration, Präzision, Klarheit, Ruhe, Stille, Sparsamkeit im Umgang mit den eingesetzten Mitteln, ausgehend vom Material Eisen, sparsam ergänzt bzw. kontrastiert durch Holz, Stein, Beton. Er beschreitet einen Weg nach innen. Dies entspricht seinem Wesen und seinem Blick auf die Welt. Äußerlichkeiten, Überflüssiges sucht er zu vermeiden. Davon zeugen seine Arbeiten, davon zeugt die radikale Beschränkung seiner künstlerischen Praxis auf das dreidimensionale Objekt, die Raumplastik. Warths Ziel ist die Aussage über den Tag hinaus, ist die Verbindung von Raum, Form und Material in einer dauerhaften gültigen, beständigen Gestalt. Ein sichtbares, im wörtlichem Sinn begeifbares Objekt vor unser Auge zu stellen, das Auskunft über die Regeln und Gesetze unserer Wahrnehmung geben kann. Dies ist ein qualitatives Anliegen und Bestreben. Es ist ihm zugleich Motivation und Anspruch. Darüber hinaus ist es der Kunst – ganz allgemein gesprochen – möglicherweise gegeben, den unlösbaren Rätseln, den offenen Sinnfragen des Seins ein adäquates Rätsel, ein Sinnbild gegenüberzustellen. Sich darauf einzulassen, kommt für einen Menschen unserer Tage einer Herausforderung gleich. Wer es aber wagt, kann damit belohnt werden, dass er dabei selbst zur Ruhe kommt. Und dass es ihm so gelingt, die Zeit für einen großen Augenblick anzuhalten.